Tönnieshof 1945


Der Tönnieshof 1950
(Das Gebäude links ist die umgebaute Feldscheune, die auf der Gebäudeaufnahme von 1945 ebenfalls links abgebildet ist)



Der Carstens Konzern vor 1945

Die Gründerfamilie Carstens und deren Tätigkeit in der keramischen Branche hat ihre Wurzeln in der 1878 von Christian Heinrich Carstens gegründeten Großhandel für Porzellan, Keramik und Glas in Elmshorn. Bereits 1900 ermöglichte er seinen Söhnen Christian und Ernst den Ankauf der "Magdeburger Steingutfabrik". Die beiden Brüder Christian und Ernst Carstens bauten in den folgenden Jahren ihren Konzern sehr schnell weiter aus. Im I. Weltkrieg trennten sich die geschäftlichen Wege der Brüder. Christian übernahm die Werke Rheinsberg, Neuhaldensleben und Wallhausen, Ernst dagegen die Magdeburger und Elmshorner Werke sowie das Elmshorner Engro-Geschäft. Der Teil des Familienunternehmens, der 1940 unter der Geschäftsführung von Ernst Carstens (dem späteren Gründer der Tönnieshofproduktion) stehende Carstens Kommanditgesellschaft, galt schon allein als einer der größten keramischen Betriebe im Deutschen Reich mit über 3.000 Beschäftigten. Diese Gesellschaft der Familie verfügte über größere Werke in Rheinsberg, Wallhausen, Creußen, Hirschau, Gräfenroda, Georgenthal und die bekannte Steingutfabrik Uffrecht in Neuhaldensleben. Diese Firmen sind heute noch für ihre damaligen innovativen Produkte bekannt.

Der Aufbau der Tönnieshofproduktion

Die Werke der Carstens Kommissionsgellschaft in der Sowjetische Besatzungszone wurden enteignet. Als der Einmarsch der russischen Truppen sich abzeichnete hatte Ernst Carstens 1945 die Geschäftsstelle von Rheinsberg/Mark nach Hamburg verlegt. Auf der Suche nach einem Standort für seinen unternehmerischen Neubeginn war er durch den ebenfalls enteigneten Ziegeleibesitzer E. Locke auf Fredelsloh aufmerksam geworden. Ab Herbst 1945 begann er dort, vor allem durch E. Locke vorangetrieben, mit den Vorarbeiten für den Aufbau einer Steingutfabrik. Ernst Carstens hat diese Neugründung in Fredelsloh als Gründung eines Zweigwerkes der alten Kom. Gesellschaft betrieben, da zu dieser Zeit in der britischen Zone keine Neugründungen genehmigt wurden. Die Kom. Ges. war jedoch auf dem Tönnieshof nur formell aufgetreten und hat selber dort keine Waren produziert, war aber in der Westzone Eigentümer größerer Geldsummen und Nutznießer der fortlaufend aus den “ostzonalen“ Fabriken herausgezogenen Waren und Gelder. Dies war möglich bis zu den Enteignungen in der SBZ, die im Oktober 1948 abgeschlossen wurden. Dazu kamen noch öffentliche Gelder, Privatvermögen von Ernst Carstens und die Einnahmen aus der beginnenden Produktion.

Es war für mich, der diese Zeit nicht aus eigenem Erleben kennen- und spüren gelernt hat, faszinierend diesen Teil der Geschichte der Bundesrepublik aus einer wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Sicht der Menschen zu erforschen, die diesen Neuanfang ermöglichten. Auf der einen Seite eine Unternehmerpersönlichkeit mit einer hohen sozialen und fachlichen Kompetenz, der jeden im Betrieb duzte, der sich für keine Arbeit im Betrieb zu schade war. Der zu einem Unternehmerfreund 1948 sagte (auf die Frage warum er überhaupt übertariflich zahle): „Du kannst eine Kuh nur melken, wenn Du sie gut fütterst.“ Zu dieser Firmenphilosophie von ihm gehörten daher eine Vielzahl von sozialen Einrichtungen für die Beschäftigten seiner Firmengruppe. Hinzu kamen Mitarbeiter, die er wohl überdurchschnittlich motivieren konnte. Bis ca. 1950 (der Mitarbeiterstamm war bereits auf über 200 angewachsen, davon ca. 50% Frauen) setzte sich die Belegschaft fast ausschließlich aus fachfremden Flüchtlingen zusammen. Als Fachleute standen nur ein ebenfalls enteigneter Ziegeleibesitzer (E.Locke), ein keramischer Meister und zwei kaufmännische Mitarbeiterinnen aus Rheinsberg dem Betrieb zur Verfügung.

Das Umfeld

Die Industrialisierung in der Region um Fredelsloh setzte faktisch erst mit der Betriebsgründung auf dem Tönnieshof 1945/46 ein. Obwohl wichtigsten Rohstoffe und Energieträger vorhanden waren, hatte bisher jedoch die verkehrsungünstige Lage dort eine industrielle Entwicklung verhindert.

Es waren Fragen nach dem Land im Wandel, „dem langsamen Ende der Vergangenheit“ mit Arbeitern und Arbeiterschaft im Dorf; neuen Arbeitsbedingungen; dem Begegnen von "echten Fredelslohern" und "fremde Bettlern" (die Vertriebenen). Es war ein Neuanfang der durch die Nachkriegsjahre (die u.a. von Flüchtlingen mit ihrer Armut und von der Trauer und Hoffnungslosigkeit der Menschen) geprägt waren. Es gab nur wenig Familien ohne Kriegstote, Verletzte, oder Vermisste. Wohnraum und Lebensmittel fehlten. Deutschland und seine Wirtschaft waren in lokale und kleinregionale Teilwirtschaften zerfallen, weil Verkehrswege und Transportmittel weitgehend zerstört waren.

Der am 1.1.1947 erfolgte Zusammenschluss der amerikanischen und britischen Zone zur Bizone scheint sich auf die neue Carstensfirma in Fredelsloh sehr positiv ausgewirkt zu haben. Die Familie Carstens profitierte von ihren guten Kontakten zu hohen Verbindungsoffizieren in dieser Bizone und der Tatsache, dass die Elternfamilie von Trude Carstens, geb. Buchbinder in der NS-Zeit verfolgt wurde. Ein Mitarbeiter, Rudolf Knörlein, schreibt dazu sinngemäss: “Mit unerhörter Energie, nach langwierigen Verhandlungen, trotz zeitweise aufgefahrener britischer Kriegsfahrzeuge, die die Baustelle stilllegten. Mit Hilfe aufgestellter Beobachter um die Briten auszutricksen, gelingt es endlich das “Permit“ zur Weiterarbeit zu bekommen.“ So arbeiteten gegen Ende 1946 bereits über 70 Mann am und auf dem Tönnieshof und der vorher nicht vorhandenen Erschließungswege.

Ab Oktober 1946 konnte dann auch die Gipsstube mit der Arbeit beginnen. Die ersten Modelle, es handelte sich um Milchtöpfe, Trinkbecher und Vasen, wurden angefertigt. Aus Rheinsberg und Georgenthal wurden Mutterformen “organisiert“. Wieder wurden auf abenteuerliche Art und Weise mit Hilfe von Handwagen, Tatkraft und Kuhgespann die benötigten schweren Mutterformen schwarz über die grüne Grenze geholt. Die Bautätigkeit und ab 1949 ein hochmoderner Ringofen und die ständig wachsende Belegschaft bestimmen das Bild auf der vormals „grünen Wiese„.

Der Zuzug der nötigen Arbeitskräfte führte zum Bau von Arbeiterwohnhäusern und kleineren Zuliefer- und Handwerksbetriebe fanden hier ihr Auskommen. Es entstand auf dem ehemaligen Weidehof ein Industrieareal mit Wohnmöglichkeiten für über 100 Menschen. Der Umsatz der feinkeramischen Industrie in Niedersachsen betrug 1949 insgesamt nur rund 1 Mill. DM. Die Mehrheit dieser Firmen war nur teilweise ausgelastet, dagegen expandierte die neu gegründete Majolika GmbH auf dem Tönnieshof kräftig. Bereits ein Jahr später hatte die Firma Carstens allein einen Umsatz von ca. 1,1 Mill. DM. Bedingt durch die Währungsreform und die Konkurrenz aus Ostdeutschland mussten bis 1949 bereits wieder Betriebe Konkurs anmelden oder sie eröffneten ein Vergleichsverfahren. Dies waren die Anfangsjahre, in denen auf dem Tönnieshof die neue Fabrik entstand, expandierte und zu einem der Marktführer in der Bundesrepublik wurde.

Der Nachholbedarf an Gebrauchsgeschirr in den ersten Nachkriegsjahren und das kaufmännische Können der Firmenleitung unter Ernst Carstens führte zu einer schnellen Vergrößerung des neuen Keramikbetriebes in Fredelsloh. Dazu berichteten die Northeimer Neusten Nachrichten im Januar 1948: "10.000 Milchtöpfe für die Northeimer Haushalte" von der Versorgung der Region mit Gebrauchsgeschirr durch Carstens. Der Betrieb vergrößerte sich weiter. So arbeiteten 1956 über 400 Menschen bei der Firma Carstens-Keramik Tönnieshof. In Freden war 1953 ein Zweigwerk entstanden und eine Lizensfertigung für figürliche Keramiken aus Wien von der Firma Goldscheider übernommen worden. In den Fachzeitschriften (z.B. "Schaulade") wurden regelmäßig Carstensprodukte vorgestellt. Auf allen großen Konsumgütermessen stellte die Firma aus. Ab 1960 erfolgte eine vollkommene Umstrukturierung der Fabrik. Die Produktionen in Freden und die Fertigung Goldscheider werden wieder eingestellt. Es wurden in diesem Zuge zwei moderne Tunnelöfen in Betrieb genommen, ein großdimensioniertes Verwaltungsgebäude mit großen Ausstellungsflächen entstand und eine neue Produktionshalle wurde gebaut.

Carstens-Keramik gehörte um 1960 aufgrund der Produktionszahlen zu den vier größten Betrieben für Feinsteinzeug im Nachkriegsdeutschland (Wroz 1978, 74). Es bestanden Lizenzen und Beraterverträge mit Firmen in Chile, Argentinien, Österreich und Australien, daraus betrug der Jahresumsatz 1966 allein 3,5 Mill. DM. Der gesamte Jahresumsatz der Tönnieshofproduktion betrug noch einmal 7 Mill. DM (vgl. Schaulade 10/1966, 1484). Auf ca. 15.000 m2; überdachter Fabrikfläche wurde bis zu 250 Tonnen Fertigware im Monat produziert, dies entsprach einer Tagesproduktion von bis zu 10.000 Fertigteilen. Die Außenfläche des Werkes in Fredelsloh betrug über 50.000 m2; mit 41 Werkswohnungen, Schwimmbad und einem eigenen Laden für die Beschäftigten. Der Betrieb dominierte die Region um Fredelsloh.

Ab 1961 begann ein schleichender Niedergang der Firma. Die Anzahl der Beschäftigten sank schnell wieder unter 300. Aber noch 1969 gehörte die Carstens-Keramik GmbH zu den zehn größten Industriebetrieben im Landkreis Northeim (vgl. Erlebte Heimat 11/1969, 8 - 21) und immer noch zu den Branchenführern im Feinsteinzeugbereich. Der Abschwung der Feinsteinzeugbetriebe in den siebziger Jahren wurde sicherlich durch den Wettbewerb mit der Porzellanindustrie vorangetrieben. Bei Carstens hatten Fehlentscheidungen, bzw. Fehleinschätzungen der Firmenleitung diesen Niedergang beschleunigt. So erhielt die Firma Carstens noch 1976 eine Landesbürgschaft über 1,6 Mill. DM. Aber auch diese Bürgschaft konnte den Konkurs nicht aufhalten. Die Gewinne waren in den wirtschaftlich guten Jahren nicht wieder zurück in den Betrieb geflossen, "...sondern wurden in betriebsheterogene Kapitalanlagen investiert." (Wüstefeld 1989, 6). So musste der Betrieb am 28.4.1977 Konkurs anmelden. In den Jahren 1983 und 1987 gab es auf dem Tönnieshof noch zwei weitere Konkurse von Auffanggesellschaften. Heute besteht auf dem Gelände noch ein kleinerer Betrieb mit 10 Mitarbeitern. Der Betrieb aber, der dreißig Jahre diese Region mitbestimmt hat, existiert nicht mehr.

Vergleiche zum Inhalt des Archivs meine Veröffentlichung:

- Könecke, Gerald, Industrielle Keramik vom Tönnieshof (1946-1987) – Eine Fabrik entsteht und verändert den Ort -

- In: Birgitt Schlegel (Hg.), Industrie und Mensch in Südniedersachsen, Duderstadt 2003

- Dr. Gerald Könecke, Goldscheider West-Germany - Glanzlicht der 50er Jahre Gefäße, Figuren & Wandmasken 1953-1961. Ein Bestimmungsbuch für Sammler und Händler zur Goldscheider West-Germany Produktion.

Haben Sie Anregungen oder Fragen, schreiben sie mir bitte!


Grundformensortiment für Dekor „Helena“.
Reproduktion eines Katalogblattes vom Dezember 1961 mit der Abbildungen eines kleinen Teils des damaligen Grundformensortiments